Freund, DJ, Täter
Was ist passiert?
Stell’ Dir vor, Du wirst von einer Freundin angerufen und die sagt: „Eine Bekannte von mir hat Fotos von Dir auf xHamster¹ gesehen. Ich dachte, Du solltest das wissen. Du bist aber nicht die Einzige. Neben Dir sind noch weitere Frauen betroffen.“ Düstere Vorstellung, oder? - Aber uns ist genau das passiert.
Die Erste von uns, nennen wir sie Sonja², wird von einem Bekannten am 9. November 2020 kontaktiert: er hat Fotos von ihr auf xHamster entdeckt. Er sendet ihr den Link eines xHamster Profils zu und sie ist geschockt: dort sind über 1.000 Fotos von verschiedenen Frauen zu finden. Viele davon kennt sie persönlich. Neben dem Großteil der Bilder, die der Täter³ offensichtlich aus sozialen Netzwerken heruntergeladen hat, gibt es auch viele intime Fotos. Zum Beispiel die, die der Täter von einer schlafenden Frau gemacht hat. Er fotografierte ihre Brüste, ihren Po, ihre Vulva. Auf einigen der Bildern ist auch seine Hand zu sehen.
Sonja kontaktiert die betroffenen Frauen, die sie erkennt. Sie erkennt sie, weil die meisten, genau wie Sonja, in Leipzig wohnen und in der Drum and Bass Szene unterwegs sind. Sie durchstöbert die Facebook-Profile von Freundesfreundinnen, um auch die Frauen zu finden, die sie nicht kennt. Jede betroffene und kontaktierte Frau klickt sich selbst durch das xHamster-Profil und informiert wiederum Frauen, die sie erkennt. Es entsteht eine Informierungskette.
Um uns auszutauschen und zu organisieren, erstellen wir eine WhatsApp-Gruppe.
Inzwischen ist klar: alle Fotos wurden von demselben Account hochgeladen. Die meisten Bilder wurden von unseren Facebook-Profilen geklaut. Es gibt aber auch viele Aufnahmen, die wir selbst nie veröffentlicht haben. Es gibt Fotos von offensichtlich Minderjährigen und Fotos von unseren Intimbereichen⁴. Es gibt Bilder, auf denen die Betroffenen⁵ offensichtlich nicht bei Bewusstsein waren. Auf einigen sind unsere Kinder mit abgebildet und nach ein paar Wochen erscheint ein Album mit Aufnahmen von sehr jungen Mädchen in knappen Oberteilen und Hotpants, die offensichtlich heimlich auf einem Rummel geschossen wurden.
Wir erstellen Screenshots von Allem, um Beweise zu sichern.
Schnell kommen wir zu einer Vermutung, wer der Täter ist, denn uns wird klar: uns alle verbindet ein Mensch. Wie viele von uns, ist er schon jahrelang u. a. als DJ und Veranstalter Teil der mitteldeutschen Bassmusik-Szene. Er wohnt in Leipzig. Er ist unser Facebook-Freund, Bekannter, Kumpel, Kollege oder Ex-Freund. Er hat bei einigen Fotos selbst den Auslöser betätigt. Das wissen wir, denn wir standen vor der Kamera. Und die Hände, die auf einem Bild zu sehen sind? Das sind offensichtlich seine. Er muss schon jahrelang Bilder gesammelt haben, denn die Fotografierten sind auf den Aufnahmen teilweise 17 Jahre jünger als heute.
Wir wollen uns über unser weiteres Vorgehen austauschen. In unserem ersten Video-Chat beschließen wir, keines unserer Bilder entfernen zu lassen, den Täter nicht bei xHamster zu melden und niemandem, außer der Polizei und unseren engsten Vertrauten, davon zu erzählen. Das fällt uns unendlich schwer – wir wollen aber unbedingt verhindern, dass er etwas von unseren Handlungen gegen ihn ahnt und uns zuvorkommt, indem er sein Profil und damit alle Beweise von xHamster entfernt, bevor die Polizei Beweise sichern kann. Eine von uns geht sofort nach dem Call zur Polizei, die meisten anderen erstatten online Anzeige.
Die kommenden Wochen verstreichen sehr langsam, bei der Polizei passiert scheinbar nichts. Der Versuch herauszufinden, ob und wann sie etwas unternimmt, bleibt erfolglos. Einige von uns besuchen immer wieder die xHamster-Seite und sind gezwungen untätig zuzusehen, wie der Täter Alben hinzufügt, entfernt, erneut hochlädt, sie mit Passwörtern schützt, sie umbenennt oder sich mit anderen Usern in den Kommentaren über uns auslässt. Die ekelhaften, misogynen und beleidigenden Kommentare unter den Bildern sind sehr belastend. Besonders strapazierend ist auch, dass der Täter unter manchen Fotos Vor- und Nachnamen, Alter, Beruf und Adresse von einigen von uns veröffentlicht. Die davon Betroffenen haben Angst, dass plötzlich ein Fremder aus dem Internet vor ihrer Tür steht und übernachten mehrere Nächte bei Freund*innen.
Jedes Mal, wenn der Täter Fotos von seiner Seite löscht, fragen wir uns: “Weiß er, dass wir es wissen? Fängt er jetzt an, Beweise zu vernichten?”
Am 3. Dezember 2020 um 10:00 Uhr kontaktiert eine von uns erneut den zuständigen Polizeibeamten mit dem Hinweis, dass der Täter genau in diesem Moment online sei und Bilder der Mädchen auf dem Rummel (s.o.) hochgeladen hat. Jetzt endlich, fast einen Monat nach der ersten Anzeige, wird die Leipziger Polizei tätig, führt noch am selben Tag eine Hausdurchsuchung durch und beschlagnahmt sämtliche Datenträger des mutmaßlichen Täters. Wir atmen ein bisschen auf.
Das ist jetzt über ein Jahr her.
Von diesem Täter sind mehr als 50 Frauen betroffen.
Fast alle haben Anzeige erstattet.
Eine von uns wurde zu einer Zeug*innenaussage vorgeladen.
EINE.
Fußnoten
¹ Auf der Webseite sind kostenfrei p0rnografische Amateurvideos, Webcam-Models und p0rnografische Fotografie zugänglich. Nutzende können ein Profil erstellen und dort Inhalte hochladen. (https://de.wikipedia.org/wiki/XHamster)
² Name geändert
³ In diesem Text wird das Wort »Täter« verwendet, nicht »Täter*in«, um darauf aufmerksam machen, dass Täter sexueller und sexualisierter Gewalt meist männlich (99%) sind. (Schröttle und Müller, 2004, S. 12. Die Gewaltformen, die zentral in der Studie erfasst wurden sind körperliche und sexuelle Gewalt sowie sexuelle Belästigung und psychische Gewalt. Die mehr als 10.000 Interviewpartnerinnen waren 16-85 Jahre alt.)
⁴ Wir meinen hier sowohl körperliche Intimbereiche (Vulva, Brüste, Anus) als auch den privaten Bereich unserer Wohnungen mit persönlichen Gegenständen oder unsere Safe Spaces, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sein sollen.
⁵ Es wird von Betroffenen und nicht von Opfern gesprochen. „Opfer“ gelten in unserer Gesellschaft oft als schwach, inkompetent, ohnmächtig, hilflos, passiv usw.